Lange muss die sechsjährige Stefanie auf ihre Eltern einreden, bis sie ihr den mit Helium gefüllten Luftballon kaufen. Als sie ihn endlich in Händen hält, lässt sie ihn steigen: Von Dossenheim bei Heidelberg fliegt der Ballon nach Lommatzsch bei Meißen. Über eine Grenze, die als unpassierbar gilt – mit Todesstreifen und Stacheldraht. Dort findet ihn ein Mann auf dem Feld und bringt ihn zu Anke, seiner ebenfalls sechs Jahre alten Enkelin. Sie liest die am Ballon befestigte Karte mit Stefanies Adresse – und schreibt ihr einen Brief. Zugetragen hat sich das 1977 – in einer Zeit, in der Deutschland noch geteilt war, in der Dossenheim und Lommatzsch in zwei verschiedenen Staaten lagen. Inzwischen ist Stefanie Wally erwachsen, hat auf Lehramt studiert und inszeniert seit vielen Jahren Theaterstücke.
Zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit erzählte sie bei einer Lesung am Max-Born-Gymnasium in Backnang zum ersten Mal seit dem Corona-Lockdown wieder vor Publikum von der tiefen Freundschaft, die sich im Lauf der Jahre zwischen ihr und Anke Behrendt entwickelt hat, von den vielen Briefen, die sie sich geschrieben haben: von West nach Ost und umgekehrt. Dem SED-Regime ist die Brieffreundschaft der beiden Mädchen zunehmend ein Dorn im Auge und eine Parteifunktionärin setzt Anke wiederholt unter Druck: Sie darf ihre Wunschausbildung nur beginnen, wenn sie die Verbindung mit der „Klassenfeindin“ im Westen abbricht. Doch Anke entscheidet sich mutig gegen die Ausbildung. „Wer verzichtet denn wegen einer Brieffreundin auf seine berufliche Zukunft?", sagt Stefanie Wally noch heute voller Bewunderung für Ankes Entscheidung. Als sich am 3. Oktober 1990 die Bundesrepublik und die DDR wiedervereinen, ist Wally „der glücklichste Mensch der Welt“.
Stefanie Wally ist es ein wichtiges Anliegen, bei Jugendlichen das Demokratiebewusstsein zu stärken und die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur zu fördern. Dass ihr das auch bei den zuhörenden Jugendlichen aus der Jahrgangsstufe 10 in großartiger und authentischer Weise gelungen ist, spiegelte sich vor allem in den zahlreichen nachdenklichen Nachfragen der Schüler zur totalen Überwachung und dem großen Maß an persönlicher Unfreiheit in der DDR wider.